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LICHTENFELS

Lichtenfels: Kopfschütteln über stillen Protest

Zwischen 60 und 80 Teilnehmer hatte der stille Protest vor dem Rathaus in Lichtenfels. Foto: Jürgen Steinmetz

Jürgen Steinmetz war am Montagabend zu einem Spaziergang durch „sein“ Lichtenfels unterwegs. Viele Menschen traf er um diese Zeit, kurz nach 18 Uhr, nicht. Bis er zum Marktplatz kam und seinen Augen nicht traute: „Geschätzte 80 Personen standen da im Bereich des Rathauses, mit Kerzen in der Hand“, schildert er seinen Eindruck. Abstand und/oder Masken? Eher nicht. Er schüttelte ungläubig seinen Kopf.

„Ich kam vor lauter Leuten kaum durch. Mir schossen Gedanken von Freithal in Sachsen durch den Kopf“, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion. Dort, in der Großen Kreisstadt unweit von Dresden, hatten „Corona-Spaziergänge“ stattgefunden. Also Aktionen von Corona-Leugnern, Querdenkern und Volksverhetzern.

Es war keine angemeldete Demonstration

Steinmetz ist Vorsitzender des ASC Burgberg. Aus seiner Verwunderung wurde schnell Verärgerung. „Wir als Sportverein können nicht einmal unseren Lauftreff an der frischen Luft stattfinden lassen, weil 2G+ gilt und das logistisch nicht handhabbar ist“, lässt er seinem Ärger freien Lauf. „Und hier treffen sich vermutlich Ungeimpfte und stehen dicht an dicht und machen, was sie wollen? Das kann ja wohl nicht sein!“ Steinmetz verständigte die Polizei. „Schließlich war das keine angemeldete Demonstration.“

Bei Facebook hat sich der Verein „Miteinander Füreinander“ um Jens Backert und Bernd Grau dazu bekannt. Zu sehen ist ein Foto vom Eingangsbereich des Rathauses, vor dem acht Grablichter und Kerzen stehen. „Danke für meine Selbstbestimmung“, hat ein Aktivist mit krakeliger Schrift auf den Boden geschrieben. Zu lesen ist: „Heute Abend um 18 Uhr haben sich ca. 60-70 Bürger vor dem Rathaus in Lichtenfels zum stillen Protest getroffen. Nächste Woche werden wir noch mehr. Wir leben selbstbestimmt und frei.“ Martin Laufenberg schreibt dazu: „In Burgkunstadt waren wir auch einige.“ Und erhält dafür Daumen nach oben. „Wir sind viele“, kommeniert Steffi Lange, die den Beitrag geteilt hat.

Bürgermeister Andreas Hügerich war zu dieser Zeit nicht im Rathaus

Steinmetz kontert: „Was hat das bitte mit Miteinander oder Füreinander zu tun, wenn ich mich in einer Corona-Pandemie nicht impfen oder testen lasse? Da verstehe ich die Welt nicht mehr! Im Landkreis Lichtenfels sind über 75 Prozent geimpft. Das ist die Mehrheit, nicht diese Leute vor dem Rathaus. Diese Leute stehen nicht für die Gesellschaft ein und sind erst recht keine Alternative für Deutschland.“ Genannte AfD, deren lokale Vertreter auch immer mal wieder bei Aktionen von „Miteinander Füreinander“-Vorstandsmitgliedern auftauchen, hat landesweit in internen Chats jüngst zu Widerstand und Umsturz aufgerufen. Durchaus toleriert von der AfD-Führungsspitze.

„Was hat das bitte mit Miteinander oder Füreinander zu tun, wenn ich mich in einer Corona-Pandemie nicht impfen oder testen lasse?“
Jürgen Steinmetz, Beobachter des stillen Protests

Dazu gibt es auch einen hetzenden Kettenbrief, der per WhatsApp, Telegram und SMS verbreitet wird: Menschen, die das „totalitäre Regime und die Lügen satt haben“, sollen ihn weiterverbreiten. Und sich zusammenrotten, um aufzubegehren.

Eine deutliche Mehrheit hat sich bereits impfen lassen

„Was für ein komisches Demokratieverständnis. Ich bin Demokrat, Demokratie ist ganz einfach. Es ist, wenn 50 Prozent plus eins entscheiden. Und 75 Prozent sind eine deutliche Mehrheit“, so Steinmetz. Natürlich ist er geimpft. Mittlerweile dreifach. „Für Extremismus habe ich keinerlei Verständnis. Und Extremismus dürfen wir auch nicht tolerieren. Da müssen wir gemeinsam aufmerksam sein, damit sich nicht noch mehr von deren Thesen und selbsterdachten Wirklichkeiten vereinnahmen lassen. Das sind Leute, die bewusst instrumentalisieren. Und die finden immer Mitläufer.“ Zu der Zeit des stillen Protests lief die Sitzung des Kreistags in Kloster Banz, an der auch Lichtenfels‘ Bürgermeister Andreas Hügerich teilnahm. Er wurde von diesem Auflauf vor seinem Rathaus überrascht, erfuhr daraus aus sozialen Medien, wie er im Gespräch mit dieser Redaktion sagt. „Egal, welche Meinung auf Demonstrationen vertreten wird: Eine gute Demokratie hält das auch aus“, findet Hügerich. „Jedoch muss sich jeder an die Regeln halten. Dies geht von der Anmeldung bis zur ordnungsgemäßen Ausführung und selbstverständlich in Zeiten der Pandemie der erforderliche Infektionsschutz.“ Aber: Da der Marktplatz ein öffentlicher Platz ist, ist Hügerich hier kein Hausherr, kann kein Hausrecht ausüben.

Die Versammlung wäre wohl anmeldepflichtig gewesen

In vielen Städten Oberfrankens gebe es in der Weihnachtszeit Aktionen wie diese, sagt Erster Polizeihauptkommissar Erich Günther, der Leiter der Polizeiinspektion Lichtenfels. „Als wir davon erfuhren, schickten wir eine Streife vor Ort. Dort waren aber keine Leute mehr anzutreffen. Es standen lediglich Kerzen vor der Rathaustür, ein Schriftzug und ein Grundgesetz.“ Die Teilnehmer hatten sich ebenso verflüchtigt wie die Initiatoren. Und die Hinterlassenschaften? „Diese wurden im Zuge der normalen Reinigung entsorgt“, antwortet Sebastian Müller, Pressesprecher der Stadt.

Auch bei der Polizei weiß man von der Ankündigung, dass der stille Protest am Lichtenfelser Marktplatz wiederholt werden soll. „Wir behalten den Bereich grundsätzlich im Auge und sind gerne präventiv vor Ort, um uns die Lage anzuschauen.“ Und um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten.

Vertreter von Landratsamt und Polizeipräsidium sind, nach eingehender Prüfung, übrigens der Meinung, dass der stille Protest als Versammlung zu werten war. Damit hätten die Teilnehmer zwar keinen verpflichtenden Mundschutz tragen müssen, wohl aber den Mindestabstand von 1,5 Metern wahren müssen. Und wäre eine Anmeldung bei der Ordnungsbehörde, also beim Landratsamt, Pflicht gewesen? „Das ist die Gretchenfrage“, so Günther. „Ja, wenn das eine geplante Aktion war.“ Und genau das scheint es gewesen zu sein. Die Initiatoren aber hatten wohl Sorge, dass sie keine Genehmigung erhalten hätten.

Diese Redaktion bat auch Landrat Christian Meißner um ein Statement zum stillen Protest. Seine Antwort: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung beziehungsweise der Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut. Es ist die Entscheidung eines jeden Einzelnen von uns, ob er sich derartigen Mahnwachen anschließt.“

War das so erlaubt?

Der Versammlungsbegriff ist laut Auskunft des Landratsamts in Artikel 2 Absatz 1 des Bayerischen Versammlungsgesetzes definiert: „Eine Versammlung ist eine Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, überwiegend auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.“ Beim Versammlungsrecht, landläufig Demonstrationsrecht genannt, handelt es sich um die Ausübung eines Grundrechtes (Art. 8 GG). „Insoweit bedarf es hier keiner Genehmigung, weder das Landratsamt noch die Polizei sind hier also Genehmigungsbehörden“, so Andreas Grosch, Pressesprecher des Landratsamts. „Aufgabe des Landratsamtes und der Polizei ist es, für die Sicherstellung und die Einhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Deshalb sieht Artikel 13 des Bayerischen Versammlungsgesetzes auch vor, dass, wer eine Versammlung unter freiem Himmel veranstalten will, dies der zuständigen Behörde spätestens 48 Stunden vor ihrer Bekanntgabe fernmündlich, schriftlich, elektronisch oder zur Niederschrift anzuzeigen hat.“ Diese Regelung habe somit den Zweck, im Vorfeld mit dem Veranstalter bzw. dem Versammlungsleiter sicherheitsrechtliche Belange abzuklären und – soweit angezeigt – auch einen sicherheitsrechtlichen Auflagenbescheid zu erlassen. „Auch eine Mahnwache oder ein stiller Protest fällt wohl unter dem grundgesetzlich verbrieften Recht auf Versammlungsfreiheit“, fügt Grosch an. Sei die Versammlung nicht im Vorfeld angemeldet, wie im Fall des stillen Protests, und zeige sich auch während der Versammlung kein „faktischer Versammlungsleiter“, der vor Ort dann Ansprechpartner für die Behörden ist, liege das Vorgehen im Ermessen der Polizei: Sie muss die Lage beurteilen und einschätzen, ob und in welchem Maß die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet ist. Dementsprechend kann sie einschreiten.
 

Meinung: Pippi Langstrumpf lässt grüßen!

Meinung: Pippi Langstrumpf lässt grüßen!
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"Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“, trällerte einst schon Pippi Langstrumpf, das kecke Kind mit den roten Zöpfen und dem Affen auf der Schulter, und grinste in den Fernsehklassikern frech in die Kamera. Irgendwie erinnert auch das Gebaren der Querdenker an diese Szenen. Wenn die Welt gerade nicht so ist, wie sie mir passt, dann denke ich mir eben eine neue aus. Eine Welt, in der die Corona-Pandemie nur eine Erfindung ist. Eine Welt, in der ich mit viel Obst und Gemüse vermeintlich todbringenden Viren die Stirn bieten kann. Eine Welt, in der man ein Kämpfer gegen die Unterdrückung ist, in der man als großer Held den Mächtigen die Stirn bietet. Doch, liebe Querdenkende: Leider kann man sich die Welt nicht selbst schnitzen. Auch wenn es schwer fällt, sollte man besser den Tatsachen ins Auge sehen. Oder sind euch die mittlerweile 87 Toten im Landkreis Lichtenfels so herzlich egal? Lassen euch die Schilderungen von an Corona schwer Erkrankten wirklich kalt? Die Pandemie ist nur zu bewältigen, wenn alle an einem Strang ziehen. Miteinander und füreinander, gemeinsam im Schulterschluss für die Schwachen und Schwächsten. Zusammenrottungen wie jener stiller Protest aber bewirken nur das genaue Gegenteil. Aber das bemerkt nur, wer die Welt betrachtet, wie sie ist – und sich eben keine eigene Realität ausdenkt. Markus Drossel

 

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Von Markus Drossel

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