Der Zweite Weltkrieg hat nahezu überall in Deutschland deutliche Spuren hinterlassen. Auch Lichtenfels wurde bombardiert und hatte zerstörte Häuser und Anlagen zu verzeichnen. Für den Ersten Weltkrieg gilt das nicht. Doch auch er hinterließ schon lange vor Kriegsende Spuren in der Heimat, weit weg vom Kampfgeschehen. Die Rede ist von den Kriegsversehrten, die schon nach den ersten Kriegswochen in großer Zahl aus den Kriegslazaretten wieder nach Hause kamen und das Elend der Front zu Hause sichtbar werden ließen. Die Zahlen sind dabei enorm und übersteigen alles Vorherige. Von den über 4,5 Millionen verletzten Soldaten auf deutscher Seite blieben über zwei Millionen dauerhaft versehrt und waren nur noch bedingt oder gar nicht mehr ins zivile Leben einzugliedern.
Die Idee der Invalidenschulung
Was aber sollte nun mit jenen Männern werden, die an der Front so schwere und dauerhafte Schäden an Körper und Geist erlitten hatten? Sehr früh wurde erkannt, dass es um mehr gehen musste als die bloße medizinische Versorgung. Es war auf Dauer unumgänglich, die Kriegsbeschädigten wieder fürs zivile Leben tauglich zu machen.

Da aber Viele aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht mehr in der Lage waren, ihren einmal gelernten Beruf wieder auszuüben, bekam die Idee der „Invalidenschulung“ eine immer größere Bedeutung. Diese begann meist schon in den Heilanstalten mit Arbeitstherapie und dem Erlernen des Umgangs mit den Prothesen und anderen Hilfsmitteln. Daran anschließend wurden verschiedene Kurse besucht. Nahezu alle gewerblichen und landwirtschaftlichen Schulen machten dazu Angebote. Die Invalidenschulung wurde zum Kernstück der Kriegsbeschädigtenfürsorge.
Das Angebot der Korbfachschule
Und hier ist auch das Angebot der Korbfachschule Lichtenfels zu verorten. 1916 gab Professor Friedrich Reidt, der erste Leiter der Korbfachschule, eine Broschüre heraus mit dem Titel „Die Korbflechtkurse für Kriegsinvalide an der Kgl. Fachschule für Korbflechterei in Lichtenfels“, in der er konkret beschreibt, wie eine solche Fortbildung auszusehen hat. Die Korbfachschule war damals noch eine relativ junge Einrichtung, gegründet 1904, hatte sie 1909/10 ihr eigenes Gebäude erhalten und war 1911 zur Meisterwerkstätte geworden. Schon 1912 öffnete sie ihre Pforten auch für Frauen. Interessant ist ein Blick auf Professor Reidts einleitenden Hinweis, dass es eine der vordringlichsten Aufgaben sei, brauchbares Flechtmaterial selbst zu erzeugen, indem man es schafft, solche Weiden anzubauen, wie es sie in Frankreich gebe, auf deren Import man bisher angewiesen gewesen sei. Damit würde man auch der Abhängigkeit vom ebenfalls zu importierenden Peddigrohr entkommen. Daneben betont er auch die Bedeutung der Korbflechter und gerade jetzt im Krieg, wo der Bedarf an Geschosskörben riesig sei, sei auch für die Versehrten der geeignete Zeitpunkt diesen Beruf zu ergreifen: „Jeder Kriegsinvalide, der am Korbmacherhandwerk Freude hat und die Gelegenheit benutzt, die Kurse der Korbflechtschule Lichtenfels zu besuchen, wird in jeder Hinsicht volle Befriedigung finden.“
Auch in anderer Hinsicht wird versucht den Angesprochenen, die Ausbildung schmackhaft zu machen. Dazu dient der Hinweis, dass gerade in der augenblicklichen Lage der Bedarf an Munitionskörben so groß sei, dass gleichsam eine Arbeitsgewähr gegeben werden könne. Aufgrund des Arbeitskräftemangels in den Kriegsjahren war dies sicherlich ein leicht zu haltendes Versprechen. Doch natürlich musste auch an die Zeit nach dem Krieg gedacht werden. Dazu gab es schon in den Kriegsjahren spezielle Arbeitsvermittlungsstellen für Versehrte. Und auch für Invaliden, die wieder eine Arbeit gefunden hatten, existierten Vertrauensmänner, die sie sechs Monate in der neuen Arbeit weiter begleiten sollten.
In die gleiche Richtung zielt das Versprechen der Direktion der Korbfachschule sich für die ausgebildeten Invaliden um eine Arbeit zu bemühen und auch danach von Zeit zu Zeit Wanderlehrer zu ihnen zu schicken, um ihnen zu helfen und Fortbildung vor Ort zu leisten.
Amputierte und „Kriegshysteriker“
Im Folgenden werden beispielhaft verschiedene Arten von Invaliden genannt und ihre Chancen und Möglichkeiten in der Korbflechterei erwogen.
So sind es beispielsweise landwirtschaftliche Arbeiter, die ein Bein verloren haben, die die Korbmacherei als Haupt- oder Nebenerwerb ausüben können und dadurch die Möglichkeit haben, etwas zu verdienen, möglicherweise sogar ohne ihren Wohnsitz verlassen zu müssen. 60 bis 70 Prozent aller Verwundungen waren solche der Gliedmaßen. Verursacht vor allem durch Artilleriegeschosssplitter zogen sie nahezu zwangsläufig eine Infektion nach sich, was in vielen Fällen eine Amputation notwendig machte. Den Landarbeitern wurde auch in Aussicht gestellt, die Arbeit alleine oder gegebenenfalls in genossenschaftlicher Organisation ausüben zu können.
Solche Invalidenproduktionsgenossenschaften wurden schon seit 1915 angedacht, ebenso wie eigene Siedlungen für die Invaliden, die viel zur Selbstversorgung beitragen sollten, eine Planung die den Namen „Kriegerheimstättenbewegung“ trug. Letztlich scheiterten solche Projekte aber am finanziellen Aspekt.
Die Korbmacherei sei auch für gelernte Handwerker geeignet, die vor allem im Stehen gearbeitet hatten, wie Maler, Schreiner, Dachdecker usw., denen der Verlust der Beine diese Möglichkeit nahm. Ein guter Teil des Korbmachens könne eben auch im Sitzen verrichtet werden.
Gelernte Arbeiter mit gesunden Gliedern, aber Störungen der Nerventätigkeit, vor allem periodisch auftauchenden Anfällen, sogenannte „Kriegshysteriker“, konnten natürlich Arbeiten wie die als Maschinisten, Weichensteller oder Wagenführer nicht mehr leisten. Solche psychisch Geschädigten hatten es oft besonders schwer, da lange Zeit diskutiert wurde, ob es einen Zusammenhang zwischen den Kriegserlebnissen und ihren psychischen Defekten gebe. Vielfach wurde in solchen Fällen einfach der fehlende Wille zur Heilung attestiert, was den Bezug einer Rente unmöglich machte. Auch für diese Fälle sei die Arbeit mit der Weide und den anderen Materialien ideal, habe sie doch auch beruhigende, geradezu therapeutische Funktion.
Für Invaliden, die von Haus aus einiges an Geschicklichkeit sowie eine zeichnerische Ausbildung und eine gewisse Geschmacksschulung mitbringen, war natürlich auch die Feinkorbmacherei eine Alternative. Dies gilt auch für gelernte Korbmacher oder Gestellarbeiter, die durch Steifwerden des Schulter- oder Kniegelenks in ihrer ursprünglichen Tätigkeit nicht mehr voll einzusetzen waren. Auch für sie käme die Feinkorbmacherei in Frage.
Läge dagegen der Fall so, dass eine Hüft- oder Beinsteifheit eingetreten sei, dann sei der Übergang zur geschlagenen Arbeit zu empfehlen. Natürlich galten die Einsatzmöglichkeiten auch anders herum. Feinkorbmacher, die Finger verloren hatten, konnten immer noch geschlagene Arbeit herstellen oder aber Gestellarbeiten ausführen, wie z.B. die Herstellung von Näh- und Arbeitsständern oder auch Korbmöbeln.
Generell einsetzbar waren natürlich alle Soldaten, die ihr Gehör verloren hatten. Professor Reidt schließt mit dem Urteil: „Im Ganzen genommen ist dabei aber auch die Betätigung so unterschiedlich, dass auch der Unbegabte bei Lust und Eifer nach Absolvierung der Kurse seine Befriedigung sowohl an seiner Arbeit wie an seinem Verdienst finden kann.“
Geplant waren auch schon der Ablauf und der Inhalt solcher Kurse. Ein praktischer Teil, der alle Zweige der Korbflechterei beinhalten sollte, sollte auch Arbeitsstoff- und Werkzeugkunde sowie weiterführende bzw. ergänzende Techniken wie Beizen, Färben und Fachzeichnen umfassen. Ein theoretischer Teil galt den kaufmännischen Aspekten wie Fachrechnen, Preisberechnung und Buchführung. Die Teilnehmerzahl der einzelnen Kurse war auf 30 Personen beschränkt, die dann je vier Monate feine Korbflechterei, groß- und kleingeschlagene Arbeit sowie Gestellmachen lernen sollten. Der unentgeltliche Unterricht war auf acht Stunden am Tag ausgelegt, an Samstagen nur 4,5 Stunden. Die Kosten von 10 Mark für das Werkzeug und 30 Mark im Monat für die Materialien übernimmt der Staat. Unterkunft und Verpflegung wurden für jeden Tag mit zwei Mark bezuschusst.
Auch ein Stundenwochenplan existierte bereits. 35 Stunden galten dabei der praktischen Arbeit, Materialkunde sollte in zwei Stunden vermittelt werden, während für Fachzeichnen und Fachrechnen drei bzw. vier Stunden veranschlagt waren. Ergänzt wurde die Ausbildung durch abendliche Vorträge über Bürgerkunde und ähnliche Themen.
Die Erfolge der Maßnahmen
All diese Angebote wurden von den Invaliden eher zögerlich angenommen. Nur rund 15 Prozent besuchten deutschlandweit eine solche Schulung. Und auch deren Erfolge waren wohl eher bescheiden. Was der wirtschaftlichen Depression der Nachkriegsjahre, der hohen Arbeitslosigkeit und anderen Aspekten geschuldet war. Auch staatliches Engreifen, so zum Beispiel das Gesetz, auf je hundert Angestellte einen Versehrten einstellen zu müssen, veränderte nicht viel. Im April 1920 kam dann das Reichsversorgungsgesetz, dass je nach Grad der Erwerbsunfähigkeit Renten festsetzte. Doch die nächsten Jahre verschlimmerten die Situation nur noch mehr. Mit dem Krisenjahr 1923 fielen alle Personen, die nur zu 30 Prozent als kriegsbeschädigt galten, aus jeder staatlichen Fürsorge heraus. Und auch die Einstellung der Bevölkerung ihnen gegenüber veränderte sich allmählich. Galten sie zunächst als Helden der Nation, wurden nun Stimmen laut, die in ihnen Menschen sahen, die nur Leistungsfähigeren die Arbeit wegnahmen oder gar das soziale Sicherungssystem des Staates ausnutzten.
All diese Aspekte drängte die Versehrten an den Rand der Gesellschaft, wo sich ein großer Teil von ihnen mit Betteln und Hausieren durchbrachte oder aber „Jobs“ wie Pförtner, Aufseher und Lotterieverkäufer annahm. In Lichtenfels war die Maßnahme etwas erfolgreicher. Während der Kriegsjahre besuchten hier im Schnitt 45 Schüler den Unterricht, vor allem Invaliden. Damit konnte der Vorkriegsstand gehalten werden. Erst mit der Weltwirtschaftskrise kam hier der Einbruch.
Die heutige Schule für Flechtwerkdesign ist ein Teil des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens der Stadt und ein unschätzbares Alleinstellungsmerkmal.
Von KARLHEINZ HÖSSEL