Mitten in der Nacht rammen drei Männer einen Balken gegen die Haustür. Rosa Pauson, Witwe eines Korbhändlers, ist zuhause und ruft die Polizei – doch niemand kommt zur Hilfe. Das Haus wird verwüstet und geplündert, Hund Struppi getötet.
Vom 9. auf den 10. November 1938 werden Jüdinnen und Juden in ganz Deutschland gedemütigt, misshandelt, verhaftet, deportiert oder umgebracht. In der Pogromnacht war Antisemitismus und Rassismus staatsoffiziell geworden – und jeder konnte es sehen.

Knapp 85 Jahre später stehen Rosa Pausons Urenkel Sue Lupton, ihr Bruder Steve Vercoe sowie deren Cousinen und Cousins aus Großbritannien vor dem Haus in der heutigen Bahnhofstraße in Lichtenfels. Historiker und Bezirksheimatpfleger Professor Dr. Günter Dippold ist an ihrer Seite, erzählt von den Geschehnissen jener Nacht, die er unter anderem aus Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Coburg rekonstruieren kann.
In den Akten findet sich der Augenzeugenbericht einer nicht-jüdischen Hausangestellten, die schilderte: „Auf Klingeln an der Haustür ging ich nach unten, dort waren etwa zwei oder drei SS-Leute in Uniform schon eingedrungen und zerschlugen alles. (…) Frau Pauson verhandelte auch mit den Eindringlingen und sagte: 'Wenn ihr Blut sehen wollt, dann schießt mich doch tot.'“
„Wenn ihr Blut sehen wollt, dann schießt mich doch tot.“
Bewohnerin Rosa Pauson zu den Eindringlingen

Bei dieser Aussage schießen Tränen in die Augen von Sue Lupton. Sie kennt die Geschichte ihrer Familie. Nun an jenem Ort zu stehen, an dem all dies geschehen ist, sei sehr emotional.
Ihre Mutter Margit ist in dem Haus aufgewachsen. Im Alter von zehn Jahren, September 1938, wurde sie von ihrer Mutter Emilie Pauson von der Schule abgeholt. „Wir fahren in den Urlaub“, soll sie gesagt haben. Margit habe sich gewundert, erzählt Sue. Warum zu Schulbeginn in den Urlaub?
Es war der Tag, an dem sie ihre Freunde, das Haus und ihren Hund Struppi zum letzten Mal sah. Die Familie emigriert nach Großbritannien. Vater Robert Pauson ist für eine Dienstreise bereits vor Ort. Lichtenfels wird Margit nie wiedersehen.

Das Haus der Familie Pauson wurde nach der Pogromnacht zwangsweise Eigentum der Stadt und Sitz der Kreis- und Ortsleitung der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dort mehrere Betriebe und Wohnungen unter sowie zeitweise der Sitz des Arbeitsamtes. Heute ist eine Arztpraxis in dem Gebäude und seit 2012 das Obermain-Tagblatt.

Von einem Filmteam begleitet, gehen die Nachfahren der Korbhändler-Famile Pauson am Mittwoch durch die Räume. Doktor Bruno Ebenberger sperrt seine wegen Urlaub geschlossene Praxis extra auf und erzählt, dass er beim Einzug in den 80-er Jahren auf eine hochwertige Brokat-Tapete gestoßen sei, dahinter waren Zeitungen. „In der Frankfurter Allgemeinen konnte man Stellenangebote von 1918 lesen“, erinnert er sich.

In den Räumen des Obermain-Tagblatts nehmen sich die Geschwister Sue und Steven in den Arm, halten kurz inne. „Hier muss das Fenster sein, aus dem unsere Mutter immer auf den Bahnhof geschaut und auf ihren Onkel Stefan gewartet hat“, sagt Sue. Davon habe ihre Mutter mehrmals erzählt.

Hergeführt hatte die Familie mehr oder weniger ein Zufallsfund: Im Jahr 2017 wird im Lichtenfelser Landratsamt im Rahmen der Digitalisierung ein unscheinbarer, brauner Umschlag gefunden. Darin: konfiszierte Führerscheine jüdischer Mitbürger. Wer waren diese Menschen?
Über ihr Schicksal recherchierten im Schuljahr 2018/2019, auf Initiative von Landrat Christian Meißner und unter der Leitung von Manfred Brösamle-Lambrecht, Schülerinnen und Schüler des Meranier-Gymnasiums (MGL) im Rahmen eines Projekt-Seminars. Sie schaffen es, über verschiedene Kontinente und Zeitzonen hinweg Kontakt zu noch lebenden Familienmitgliedern herzustellen. Das Projekt „13 Führerscheine – Dreizehn jüdische Schicksale“ wurde mehrfach ausgezeichnet und fand internationale Beachtung.

Und bei diesem Besuch taucht er auf: ein 14. Führerschein. Von Stefan Pauson. Eine Enkelin zückt ihn und erzählt, der vertriebene Korbhändler habe nach dem Krieg einen Brief an die Behörden geschrieben, ungefährer Wortlaut sei gewesen: Ihr habt mir meine Heimat genommen, gebt mir wenigstens meinen Führerschein wieder.
Dokumentarfilmer aus den USA
Ein Filmteam hat den Moment, in dem sie den Führerschein zeigt, eingefangen. Seit Jahren begleiten sie die Spurensuche, die bei den Schülerinnen und Schülern begann und die emotionale Reise aller Beteiligten festhält.

Produzentin ist Elisabeth Gareis, eine gebürtige Lichtenfelserin, die als Professorin am Baruch College der City University of New York, lehrt. Regie führt ihr Mann Ryoya Terao, ein Dokumentarfilmer, um den Ton kümmert sich Nikolaj Täuber. Kameramann ist Emmy-Preisträger Mark Raker, der schon Hollywood-Größen wie Emma Watson oder Robert De Niro vor der Linse hatte.

Eine kurze Version des Films gibt es bereits, eine längere soll laut Gareis in etwa zwei Jahren veröffentlicht werden. Es sei eine Erinnerung an den Holocaust, aber auch ein Film über Begegnungen, menschliche Verbindungen und Hoffnung.
Rosa Pauson wurde in der Pogromnacht nicht erschossen. Auch sie wanderte nach England aus. Ihre Enkelin Margit hat Lichtenfels nie wieder besucht. Im Mai dieses Jahres stirbt Margit Pauson-Vercoe im Alter von 95 Jahren. Als Erinnerung an die Korbhändler-Familie, aus der sie stammte, wurde ihr Sarg aus Weide geflochten.

Am Donnerstag, 24. August, können die Sonderausstellungen „13 Führerscheine, 13 jüdische Schicksale“ und „Da 49, Da 512 – Züge in den Tod“ in der ehemaligen Synagoge besichtigt werden. Im Stadtschloss Lichtenfels ist ab sofort die Sonderausstellung „Genisa – Funde aus der Synagoge Lichtenfels und anderen fränkischen Synagogen“ zu sehen.
Stolpersteine werden verlegt
Von Carolin Gißibl